Der Mensch Georg Wagner

Von Maria Wagner-Feller

Die Schweicher Synagoge ist ein beliebter Ort für Kulturveranstaltungen. Sie ist ebenso auch ein Ort des Gedenkens und Lernens.

Einer, der sich in besonderer Weise dafür einsetzte, dass die Synagoge diesen Charakter erhielt, war Georg Wagner, der von 1961 bis 1987 als Lehrer in Schweich tätig war.

Er hat nicht nur für jedermann verständliche Erklärungen zur Bedeutung der Synagoge und dem jüdischen Friedhof geschrieben, sondern vor allem die Geschichte der Juden in Schweich gründlich recherchiert. Das war in den 80er Jahren, vor der Zeit des Internets für alle. Vielleicht kann sich der ein oder andere vorstellen, wie viel Zeit und Energie eine solche Arbeit erforderte. Es war nicht mit einer Recherche in einem Archiv getan. Die Texte, manche auf Hebräisch, mussten entziffert und übersetzt werden. Dazu musste die Zusammenarbeit mit geeigneten Experten gesucht werden, ebenso Kontakte zur jüdischen Gemeinden.

Recherchen werfen in der Regel neue Fragstellungen auf und eröffnen weitere Aspekte, die geklärt und eingearbeitet werden müssen. Und schließlich müssen die Ergebnisse inhaltlich und formal korrekt in eine für jeden verständliche Form gebracht werden. Bis zu diesem Punkt war Herr Wagner mit seinem Manuskript gekommen, als er am 8. Februar 1990 plötzlich und unerwartet im Alter von 67 Jahren verstarb.

Was hat ihn zu dieser umfangreichen Arbeit motiviert?

Gibt es Ereignisse und Erfahrungen in seiner Biografie, die ihn für diese Art von Erinnerungsarbeit sensibilisiert haben?

Zuallererst aber möchte ich an dieser Stelle allen Menschen danken, die meinen Vater in seiner Arbeit unterstützt haben: durch wissenschaftliche Begleitung, Gespräche über ihre Erinnerungen an jüdische Mitbürger, Hinweise zu weiteren Informationsquellen und vieles mehr.

Mein besonderer Dank gilt Herrn Richtscheit und Frau Dr. Dohm, die die Arbeit meines Vaters in die Hand genommen haben, sie mit großem Engagement und Sachverstand auswerten und in Projekte einer zukunftsorientierten Erinnerungskultur einbringen.

Ich glaube, es ist genau das, was mein Vater sich gewünscht hat, was aber zu seinen Lebzeiten in dieser Form noch nicht möglich war.

Vorausschicken möchte ich ferner, dass alles, was ich im Folgenden zur Biografie meines Vaters „erzähle“, schriftlich belegt ist, im Original oder in Kopie.

Die Biografie meines Vaters steht für die vieler junger Menschen, die sich damals der Ideologie des Nationalsozialismus verweigerten.

Herkunft aus einfachen Verhältnissen

Mein Vater wurde am 21.09.1922 als ältester von drei Brüdern in Föhren geboren. Die Familie lebte in einer 2-Zimmer-Wohnung in sehr bescheidenen Verhältnissen. Sein Vater arbeitete auf dem Hofgut Kesselstatt. Es war die Gräfin von Kesselstatt, die es meinem Vater ermöglichte, mit 13 Jahren von der Volksschule Föhren zur Höheren Schule der Steyler Missionare in Wengerohr zu wechseln. Ab 1936 lebte er also im Internat St. Paul. Sein Ziel war zunächst das Abitur.

Ich vermute, dass auch sein Interesse an anderen Kulturen und Sprachen dort geweckt wurde.

Katholisches Internat in der NS-Zeit.

Im Jahr 1939 wurden Schule und Internat St. Paul auf Anordnung der NS-Regierung geschlossen. Die Missionsschüler, d.h. diejenigen, die vorhatten, in den Orden einzutreten, wechselten zur Missionsschule der Steyler nach St. Wendel. Dabei war auch mein Vater. Ein Jahr später, 1940, wurde auch diese Schule geschlossen. Die Schüler konnten aber zunächst weiter im Missionshaus wohnen und die Oberschule St. Wendel besuchen.

Im Jahr 1941 nahm die Repression dann weiter zu:

Im Januar wurde das Missionshaus von der Gestapo beschlagnahmt. 29 der dort wohnenden Schüler versuchten noch zu retten, was zu retten war. Dazu stiegen sie mit Wissen der Ordensangehörigen am nächsten Tag in das Gebäude ein. Sie wurden an die Gestapo verraten und die 29 Schüler wurden des Diebstahls von beschlagnahmtem Material angeklagt.

Meinem Vater, der in den Nebenraum des Krankenzimmers eingestiegen war, wurde in der Anklageschrift vorgeworfen: das Entwenden einer Gasmaske, Mullbinden, Desinfektionsmittel, Heilkräuter-Extrakten und Zahnkronen.

Die Schüler des Internats mussten auf Anordnung der oberen Schulbehörde die Oberschule unverzüglich verlassen.

Studienverbot

Das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium Trier nahm meinen Vater im Februar auf. Drei Monate später erhielten er und ein weiterer Missionsschüler Schulverbot für alle Höheren Schulen im Deutschen Reich.

Diese Anordnung ist unterzeichnet vom Oberpräsidenten der Rheinpfalz, Sitz in Koblenz.

Unter Bezugnahme auf die o.g. Anklageschrift wurde dieses Verbot mit dem „Vorliegen eines besonders schweren Falls von Diebstahls“ begründet. Mein Vaters war sich jedoch sicher, dass der Grund ein anderer war: Er hatte im Verhör keinen Hehl aus seiner Überzeugung gemacht.

Der Weg zum Abitur und zu einem Studium war damit endgültig verschlossen.

Mein Vater wechselte zum Steyler-Missionshaus in St. Augustin bei Bonn und trat dort ins Noviziat ein. Es war Juni 1941.

Zwei Monate später war auch dieses Haus geschlossen.

Kriegsdienst

Im September erhielt mein Vater die Einberufung zum Wehrdienst, das Anklageverfahren gegen ihn wurde damit nicht weiter verfolgt.

Es folgten 3 Jahre Kriegs-Einsatz beim Luftnachrichtendienst (Flak) in Sizilien, dann in Oberitalien, dort zuletzt als Sanitäter.

Seinem Tagebuch aus der Zeit 1943/44 ist zu entnehmen, dass er sich in dieser Zeit stark mit sich selbst und seinem Wunsch, Priester zu werden auseinander setzte.

Am Ende des Krieges kam er für kurze Zeit in amerikanische Gefangenschaft.

Berufsfindung nach Kriegsende

Nach der Entlassung ging er wieder ins Missionshaus St. Augustin, um sein Noviziat fortzusetzen, das Abitur nachzuholen, Theologie zu studieren und dann als Missionar zu arbeiten.

Wenige Monate später jedoch schon musste er seinen Berufswunsch dann endgültig aufgeben.

Da seine beiden Brüder in Russland vermisst waren, musste er sich um seine völlig mittelosen Eltern kümmern. Hinzu kam, dass er in dieser Zeit bereits seine spätere Frau, meine Mutter, kannte, was ihn in Bezug auf seine Berufung stark verunsicherte.

Er ging also zurück nach Föhren, arbeitete als landwirtschaftlicher Helfer und bewarb sich gleichzeitig um die Zulassung an der Lehrerbildungsanstalt in Trier. Der Lehrerberuf war das, was seinem ursprünglichen Berufswunsch am nächsten kam. Statt eines Abiturzeugnisses konnte er nur seine Zeugnisse bis zur 10. Klasse sowie ein hervorragendes Gutachten des Steyler Missionshauses St. Augustin vorlegen.

Behördliche Versuche, NS-Gegner kaltzustellen

Seine Bewerbung wurde von der Pädagogischen Akademie Trier positiv beschieden. Von der oberen Behörde in  Koblenz kam jedoch keine Antwort. Ab September nahm er also an einem Schulhelferkurs in Trier teil. Die Tätigkeit als Schulhelfer würde ihm sowohl ein kleines Einkommen als auch eine Aufnahme in eine Pädagogische Akademie (PA) ermöglichen.

Zwei Monate später kam vom Oberpräsidenten in Koblenz – der gleichen Stelle also, die ihm 1941 Schulverbot erteilt hatte- der Bescheid, dass die Zulassung zu einer PA nicht möglich sei. Begründung: fehlendes Praktikum.

Mein Vater besuchte trotzdem weiter den Schulhelferkurs in Trier, der bis zum 1.2.47 lief.

Drei Wochen vor Beendigung des Kurses erhielt er von Koblenz eine zweite Absage der Zulassung zu PA.

Die Begründung diesmal: Fehlendes Praktikum und „Die Aufnahme in ein Pädagogium ist wegen Ihres Alters nicht möglich“.

Mein Vater vermutete nun, dass man ihn „loswerden“ wollte – eine Erfahrung, die nach der NS-Zeit viele machen mussten, die vorher nicht systemkonform waren und deshalb Repressalien ausgesetzt waren. Sie „wussten zu viel“. Die Täter in den Behörden hatten das braune Hemd gegen ein weißes ausgetauscht und allenfalls die Plätze getauscht.

Im Fall meines Vaters beendete ein Gang zur Französischen Besatzungsbehörde das Verhinderungsmanöver. Er wusste sich zu helfen und hatte Glück. Das war eher die Ausnahme.

So erhielt er sofort im Anschluss an den Kurs eine Stelle als Schulhelfer in Schweich-Issel. Parallel dazu arbeitete er noch in der Landwirtschaft und war externer Student an der PA Andernach, wo er im Juli 1948 seine erste Lehramtsprüfung ablegte. Die zweite Lehramtsprüfung legte er dann 1951 in Naurath/Eifel ab, wo er bis 1961 tätig war.

Wiedergutmachung – zähes Ringen um Gerechtigkeit

Ein weiteres Kapitel, das am Beispiel meines Vaters verdeutlicht werden kann, ist das der „Wiedergutmachung von Unrecht durch das NS-Regime“. Diese Wiedergutmachung ist 1950 im BEG (Bundes-Entschädigungs- Gesetz) festgelegt worden.

1. Versuch: Bereits Anfang 1948 stellte mein Vater einen Antrag auf Anerkennung als Opfer des Faschismus. In seiner Begründung schreibt er u.a. „Heute stehe ich ohne Reifezeugnis da und hatte deshalb schon Schwierigkeiten. Ich bin der einzige Ernährer meiner kränklichen Eltern und kann das Studium nicht nachholen. –Andere haben in der Nazizeit ihr Studium ungehindert zum Abschluss bringen können und bekleiden heute gute Stellen. Mich hatte man unschädlich gemacht, da ich der HJ nicht angehörte und politisch wie weltanschaulich den Nazis ein Hindernis war.“

Im Rahmen seiner Schulhelfertätigkeit und des Lehrerstudiums ist 1948 auch in seinem Fall zunächst ein „Entnazifizierungsverfahren“ eingeleitet worden – was er selbst als völlig absurd empfand. Immerhin hatte es zur Folge, dass ihm schriftlich bescheinigt wurde, dass er von diesem Verfahren nicht betroffen sei.

2. Versuch: 1950 stellt er erneut einen Antrag auf Wiedergutmachung, und zwar in Form der Ermöglichung einer kostenlosen Ausbildung mit Abiturabschluss. Auf diese Weise wollte er die Bildungslücken, die ihm das Fortkommen in seinem Beruf erschwerten, schließen.

Der Antrag blieb unbeantwortet.

3. Versuch: 1953 machte er dann mit Hilfe des Verbandes der Katholischen Lehrerschaft Deutschlands einen weiteren Anlauf. Da er zu diesem Zeitpunkt bereits verbeamtet und seine wirtschaftliche Lage gesichert war, er zudem heiraten und eine Familie gründen wollte, forderte er diesmal 5000 DM Entschädigung für die entgangene Ausbildung. Wieder keine Antwort.

4. Versuch: 1954 stellte er erneut einen Antrag, auf den er ein halbes Jahr später einen Ablehnungsbescheid erhielt. Begründung: Der Schaden sei ihm durch die Einberufung zum Wehrdienst entstanden und das sei kein Entschädigungsgrund.

5. Versuch: 1957, nachdem das Bundes-Entschädigungs-Gesetzes novelliert worden war, stellt er noch einmal einen Antrag mit der Forderung auf 5000 DM Entschädigung und erhält nun, nach 9 Jahren, die Entschädigung.

Abgesehen davon, dass diese Summe damals für die junge Familie, mit den zu versorgenden Eltern, eine beachtliche wirtschaftliche Hilfe war, stellte der ideelle Wert dieser Geste für meinen Vater eine viel größere Wiedergutmachung dar: Die Anerkennung, dass das, was ihm und vielen anderen durch das NS-Regime widerfahren war, Unrecht war und dass sein Bedürfnis nach gerechter Behandlung nicht einfach mit einem behördlichen Federstrich weggefegt wurde.

Ich denke, dass dieser „Sieg“ ihm geholfen hat, sein tiefes Misstrauen gegenüber den Staatsorganen der jungen Bundesrepublik ein Stück weit zu überwinden.

Auch in diesem Fall war mein Vater eher die Ausnahme. Nur wenige Betroffenen hatten die Möglichkeiten und die Kraft, ihr Recht mit Erfolg einzuklagen.

Was hat das mit seinem Einsatz für die Synagoge zu tun?

Ich denke, auf dem Hintergrund seiner Erfahrung des Ausgesperrt-Werdens von Bildungs- und Berufsmöglichkeiten und später des Nicht-gehört-Werdens in seinem Anliegen um Wiedergutmachung hat er ein deutliches Gespür dafür entwickelt: Wenn die Synagoge zu einer reinen Kulturstätte „umfunktioniert“ würde, dann käme dies einer endgültigen Vernichtung der jüdischen Gemeinde gleich. Es wäre wie  ein Schlag ins Gesicht für die (damals) noch lebenden Schweicher Juden gewesen.

Dann wäre das Verdrängen zum Vergessen geworden und der Nationalsozialismus hätte in Schweich doch noch sein Ziel erreicht: das Ausradieren jüdischen Lebens, auch im kollektiven Gedächtnis.

Warum ist das Erinnern wichtig?

Mein Vater verstand seine Arbeit als einen Beitrag zu einer Kultur des Erinnerns.

Schließlich ging es ihm nicht nur um den Wiederaufbau der Synagoge als Baudenkmal, sondern um die Menschen, denen dieses Gebäude einst eine Heimat war. Um die Nachbarn, die eines Tages nicht mehr da waren, weil sie, bestenfalls, geflohen oder aber, schlimmstenfalls, „abgeholt“ worden waren.

Auch wenn er diese Menschen nicht persönlich gekannt hatte, so bekamen sie doch bei der intensiven Beschäftigung mit ihrem Schicksal einen Platz in seinem Herzen.

Insofern kann man seine Arbeit als eine Art stellvertretende „Erinnerungsarbeit“ für die Gemeinde Schweich verstehen.

So war es für meinen Vater einer der schönsten Momente seines Lebens, als alle damals noch lebenden ehemaligen Schweicher Juden die Einladung der Gemeinde Schweich angenommen haben und zur Einweihung der restaurierten Synagoge gekommen sind.

Das war nur dadurch möglich geworden, weil er die Anschrift jeder einzelnen Person aufgefunden ( ganz ohne Internet ) und ihr einen persönlichen Brief geschrieben hatte.

Wer bereit ist, sich erinnern zu lassen, bleibt nicht beim bloßen Wissen um historische Daten und Fakten stehen. Wer er-innert erkennt den Zusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und sieht sich selbst als einen Teil dieses dynamischen Stroms, den wir „Geschichte“ nennen. Daraus wächst Respekt und Dankbarkeit gegenüber den Menschen, die vor uns waren, aber auch Erschrecken über das, was Menschen Menschen angetan haben. Wir können uns auch nicht dem Schmerz und der Trauer entziehen, wenn wir die Opfer vor Augen haben.

Wer sich dem aussetzt, erkennt Zusammenhänge klarer und fördert seine Bereitschaft, Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft zu übernehmen.

Nachdem 2. Weltkrieg war das Verdrängen der Gräueltaten die Strategie, mit der man als Einzelner und als Kollektiv versuchte, mit dem Erlebten und der Schuld umzugehen. Heute, mehr als zwei Generationen später, besteht die Gefahr, dass das Vergangene in Vergessenheit gerät. Gleichzeitig haben wir, nicht zuletzt dank der neuen Medien, die Chance, leichter auf dem, was uns engagierte Zeitzeugen hinterlassen haben, aufzubauen.

In diesem Sinne ist die Arbeit meines Vaters sein kleiner Baustein für eine versöhntere Welt.

Hebt ihn auf und baut ihn ein!

Maria Wagner-Feller