Alltägliches Zusammenleben

Alltagspraxis: gegenseitige Besuche und Kennenlernen religiöser Riten

In den Dörfern an der Mosel lebte niemand anonym, jeder kannte jeden. Man lebte insgesamt mehr miteinander als in der Stadt, ging daher auch selbstverständlich miteinander um – mit Juden und Nichtjuden gleichermaßen. Bei Familienfeiern, z. B. bei einer Hochzeit, luden sich befreundete Familien ein. War ein Jude gestorben, so war es für die christlichen Nachbarn und Freunde selbstverständlich, mit den Trauernden hinaus auf den Friedhof zu ziehen, ebenso wie es für die Juden selbstverständlich war, einen verstorbenen Christen auf seinem letzten Weg zu begleiten. Schulkinder besuchten die Synagoge und mitunter im Klassenverband den jüdischen Gottesdienst. Den Brauch, „Osterwasser“ aus dem Metzbach zu schöpfen, übernahmen die Christen in Issel laut Zeitzeugenberichten von den dortigen Juden (vermutlich an Pessach). Christen zündeten am Sabbat ihren jüdischen Nachbarn das Feuer an; die sogenannten „Sabbatmädchen“ bekamen dann als Belohnung einen Matzen. So berichten es übereinstimmend Zeitzeugen aus Schweich, Issel, Leiwen, Mehring und Klüsserath. Konkret hieß es etwa über Amalia Mayer, die als strenggläubige Jüdin am Sabbat nicht arbeiten durfte, dass die Kunden in ihrem Klüsserather Laden sich die Tüten selbst abreißen und das Gekaufte auch selbst einpacken mussten; Amalia habe nur an der Kasse gesessen. Sie und ihre Schwester Pauline hätten am Laubhüttenfest die Tage in der selbst gebauten Laubhütte (im regionalen (Aacher) Dialekt mitunter „Sikkes“, vom hebr. Sukkot, genannt) verbracht. Auch in Schweich erinnerten sich Zeitzeugen an die Laubhütten bei den Privathäusern. [1]

Ebenfalls von Zeitzeugen ist bekannt, dass umgekehrt Juden auch am kirchlichen Leben der christlichen Gemeinden insofern teilnahmen, als z. B. die jüdischen Geschäftsleute beim Besuch des Bischofs oder an Weihnachten oder Fronleichnam ihre Schaufenster entsprechend schmückten. Carla Holtz geb. Kahn aus Klüsserath berichtet anlässlich der Taufe eines Kindes, wie Juden sich auch christlichem Brauchtum beteiligten: Gemäß alter Tradition wurden nach der Taufe eines Kindes von Pate und Patin Bonbons an die vor der Kirche wartenden Kinder verteilt. Ihr Vater, der Bäcker Moritz Kahn, habe anlässlich der Taufe Brötchen gebacken und sie der jungen Mutter geschenkt; diese habe sie den unter dem Fenster wartenden Kindern zugeworfen, die sie dann aufgefangen und gegessen hätten. Ähnliches wird auch für Kommunionfeiern berichtet. Im Synagogenbau – und damit in der Liturgie und nicht nur im Bereich des Brauchtums – kam es allerdings indirekt sogar zu einer gegenseitigen Beeinflussung. Im 19. Jahrhunderts wurden nämlich die Gebäude nicht nur in den Moseldörfern noch nach dem traditionellen bipolaren Raumschema angelegt, d.h. mit dem Aaron ha-Kodesch (Toraschrein) im Osten und der Bima (Vorlesepult) in der Mitte des Raumes. Die später errichtete Leiwener Synagoge griff hingegen schon die während der Reform eingeführte Änderung auf, auch die Bima – dezidiert in Anlehnung an Vorbilder im Kirchenbau mit den damals noch klaren baulichen Trennungen – im Osten vor dem Toraschrein zu platzieren.

Für den Bau dieser Synagoge spendeten 1913 sogar die nichtjüdischen Leiwener. Und bei den Feierlichkeiten der Einweihung nahmen sowohl der Leiwener Pfarrer als auch der Kirchenchor teil. Umgekehrt unterstützten die Juden des Ortes 1923 finanziell den Erweiterungsbau der Leiwener Pfarrkirche. Die beiden Gotteshäuser lagen hier wie andernorts übrigens nicht weit voneinander entfernt.

Diese positiven Seiten des Verhältnisses zwischen Juden und Nichtjuden, das selbstverständliche Miteinander wird in Gesprächen mit Zeitzeugen immer wieder von beiden Seiten hervorgehoben, beispielsweise von Frau Madertz aus Klüsserath: „Wir waren mit der Familie Kahn befreundet, waren Nachbarn. Meine Freundin war Gertrud Kahn, sie war auch auf meiner Kommunionfeier. Wir, unsere Familie und die Familie Kahn, haben uns zu Namenstagen, Geburtstagen und Hochzeitsfeiern eingeladen [1], gingen mit bei Beerdigungen. Isaak Kahn lud mich öfters zum „Mazzenkaffee“ ein: klein geschnittene Mazzen wurden in den Kaffee getunkt und dann gegessen, und dann haben wir einander erzählt. Ich habe oft Gertrud Kahns Kinder, die Zwillinge Siegfried und Manfred (*1932), spazieren gefahren, habe mit Kahns am Tisch gegessen und habe ihnen am Sabbat das Feuer angezündet. Ich habe auch immer mit Carla, der Tochter des Moritz Kahn, gespielt“ [2].

Quellen

1
Zu Heiraten zwischen Juden und Christen kam es in unserer Region mit Ausnahme von Clementine Salm aus Schweich (die sich mit einem Protestanten in Trier vermählte) zwar nicht; freilich gab es zu dieser Zeit auch kaum interkonfessionelle Hochzeiten.
2
Dies wird von dieser in einer E-Mail vom 6. Juni 2013 bestätigt.