Familie Schloß

Das Schicksal der Familie Salomon Schloß – Nach einem Bericht von Irma Schloß, der einzigen Überlebenden der Familie

Frau Irma Schloß (Foto, August 1987) lernte ich in Leiwen bei ihrer Jugendfreundin, Frau Susanne Kohl, kennen. Am 17./18. August 1987 besuchte ich Frau Schloß in Arnheim, zusammen mit Frau Kohl und meiner Frau Ursula. Nach mehreren Gesprächen mit Frau Schloß ist der folgende Bericht über ihr Schicksal und das ihrer Familie zusammengestellt. Die im Geburtsregister auf den Namen Mathilde eingetragene älteste Tochter der Familie Schloß wurde von allen Klothilde gerufen. Der Familienname Schloss, standesamtlich eingetragen mit ss (Schloss), wurde später von derFamilie mit ß (Schloß) geschrieben. (Hermann Erschens)

Klothilde Schloß (*04.08.1905 Leiwen), heiratete 1929 in Klüsserath den niederländischen Juden Hermann Nathans (*25.06.1998 Arnheim), mit dem sie nach der Heirat in dessen Geburtsort Arnheim zog. Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten und den ersten Ausschreitungen gegen die Juden in Deutschland konnte Klothilde ihre Familie in Leiwen davon überzeugen, dass es besser sei, Deutschland zu verlassen und zu ihr nach Arnheim zu ziehen, was die Familie dann auch 1935 tat. Die jüngste Tochter der Familie, Berna (*02.03.1909 Leiwen), heiratete in den Niederlanden.
Ihr Haus in Leiwen verkauften sie 1935 an Josef Schmitt.
Als die deutschen Truppen im Mai 1940 Holland besetzten, lebten die Juden dort zunächst noch relativ sicher. Salomon Schloß half seinen Schwiegersöhnen bei deren Geschäften. Weil sie u. a. Vieh an die Wehrmacht verkauften, wiegten sie sich in einer gewissen Sicherheit, obwohl Bekannte und Freunde ihnen immer wieder rieten, nach England zu emigrieren. Als die SS- Sonderkommandos, die im Gefolge der Wehrmacht in die Niederlande kamen, mit der systematischen Erfassung der Juden und den ersten Deportationen begannen, war es zu spät. Im Spätherbst 1943 wurden Klothilde, ihr Mann Hermann und ihr zehnjähriger Sohn verhaftet. Bevor sie abgeführt wurden, fragte Klothilde, völlig verstört, ob sie sich noch von ihrem Vater verabschieden könne. Damit hatte sie, ohne es zu wollen, ihren Vater, der sich in einem Verschlag auf dem Speicher versteckt hatte, verraten. Als die SS-Männer nach oben gingen, lief Irma (*06.08.1907 Leiwen) – aus einem plötzlichen Entschluss heraus – davon und konnte dem SS-Mann, der sie verfolgte, in der Dunkelheit entkommen. Salomon Schloß, seine Tochter Klothilde, ihr Mann und ihr Sohn wurden gleich, die Mutter, die im Bett lag und eine Krankheit vortäuschte, wurde am nächsten Tag abgeführt. Irma rannte in der Nacht aus der Stadt hinaus aufs Land, bis sie erschöpft bei einem Bauern anklopfte, der sie aufnahm und versteckt hielt.
An dem Tag, an dem ein Transport mit Juden aus Arnheim abfahren sollte, ging der Bauer mit Irma zum Bahnhof, um vielleicht noch einmal ihre Angehörigen zu sehen. Als sie suchend auf dem Bahnhof umhergingen, hörte Irma plötzlich ihren Namen rufen und erkannte auf einem Waggon ihre Schwester Klothilde. Sie wollte zurückrufen, aber der Bauer hielt ihr den Mund zu und führte sie vom Bahnhof weg, was ihr wohl das Leben gerettet hat.
Salomon Schloß und seine Frau Luise wurden 1943 in Auschwitz, Klothilde, ihr Mann und ihr Sohn in Sobibor ermordet. Klothilde soll, wie Zeugen, die das KZ überlebten, später berichteten, von KZ-Ärzten zu medizinischen Versuchen missbraucht worden sein, sie soll Schreckliches erlitten haben, bevor sie in der Gaskammer ermordet wurde. Berna Schloß und ihr Mann wurden ebenfalls in einem KZ, wahrscheinlich in Sobibor, ermordet. Bevor sie deportiert wurden, überließen sie ihren knapp einjährigen Sohn einer Niederländerin, um ihn so retten zu können. Ob er überlebt hat, ist nicht bekannt.
Irma Schloß lebte eine Zeitlang bei dem Bauern, der sie am ersten Tag ihrer Flucht vor den SS-Schergen aufgenommen hatte. Doch weil sie den Bauern und seine Familie nicht gefährden wollte, packte sie eines Nachts ihre Sachen, ging davon und fand eine neue Familie, die sie aufnahm. Sie war in den folgenden Jahren immer auf der Flucht: sie reiste auf Viehwagen, auf Handkarren, stapfte mit ihrem Koffer in der Hand weiter, war zeitweilig jede Nacht in einem anderen Haus, blieb auch manchmal für eine Woche oder einen Monat, blieb immer in einem Versteck: auf dem Speicher oder im Keller. Mal wurde sie freundlich aufgenommen, mal wurde sie auch abgewiesen oder musste ihre Unterkunft bezahlen. In einem streng calvinistischen Haus wollte man, dass sie konvertiere; sie kam in Konflikt, blieb aber doch ihrem jüdischen Glauben treu.
In all den Jahren, in denen sie untertauchen musste, hat sie viel erdulden müssen: den Schmerz über den Verlust ihrer Angehörigen, Angst, Einsamkeit, Demütigungen, Hunger, Kälte. Stark sei sie nie gewesen, sagt sie, aber Gott mache stark. Ihr Glaube sei es gewesen, der ihr die Kraft gegeben habe, durchzuhalten. Alles ist Gottes Wille, habe ihr Vater gesagt, als man ihn wegführte. Gottes Wille, sagt sie, sei es auch, dass sie überlebt habe.
Nach der Befreiung durch die Alliierten blieb sie noch zehn Jahre lang in Arnheim, immer auf der Suche nach ihren Angehörigen, immer in dem Glauben, eines Tages könnte jemand zurückkommen, der sie brauchte, vor allem immer in der Hoffnung, den Sohn ihrer Schwester Berna zu finden. Dann, als es ihr zur Gewissheit geworden war, dass wohl keiner mehr zu finden sei und keiner mehr zurückkehren würde, zog sie nach Südafrika zu einem Onkel, mit dem sie später nach Deutschland zurückkehrte und den sie hier bis zu seinem Tode pflegte. Danach lebte sie zusammen mit einem Juden in Buenos Aires; nach dessen Tod kehrte sie wieder nach Arnheim zurück. Das Heimweh hatte sie dorthin getrieben. Dort lebte sie strenggläubig, voller Gottvertrauen und ohne Hass. Die letzten beiden Jahre verbrachte sie in einem Altersheim in Arnheim. Dort starb sie am 29. Mai 1991.

Das Schicksal des Marx Schloß und seiner Frau Clothilde im KZ Theresienstadt

Marx Schloß wurde am 19.12.1872 in Leiwen geboren. Er und seine Frau Clothilde geb. Mann hatten in Saarlouis ein Geschäft. Nach der Rückkehr aus Theresienstadt ließen sie sich in der Schweiz nieder; sie sind auf dem Friedhof in Vevey am Genfer See beerdigt.
Den folgenden Brief, den Marx Schloß am 26. Juni 1945 im Camp les Avants in der Schweiz an seine Kinder und Verwandten schrieb und in dem er sein Schicksal und das seiner Frau während der NS-Zeit, vor allem in Theresienstadt, schildert, ist an seinen Sohn, den Rechtsanwalt Dr. Oskar Schloß, gerichtet, der vor dem Krieg noch rechtzeitig in die USA emigrieren konnte.
Der Brief, der hier in Auszügen veröffentlicht wird, ist im Besitz von Lothar Schloß, des Sohnes von Meyer Schloß. Meyer Schloß, der Bruder von Marx Schloß, wurde am 25.12.1886 in Leiwen geboren. Er wohnte zuletzt in Karlsruhe. Von dort wurde er in das berüchtigte Lager Gurs/Südfrankreich und im Convoi 21 am 10.08.1942 von Drancy nach Auschwitz deportiert, wo er wahrscheinlich ermordet wurde.
Auf Wunsch der Familie Schloß werden für die Veröffentlichung des Briefes einige Passagen gestrichen und die Personennamen anonymisiert; es wird lediglich der erste Buchstabe genannt.

Meine lieben Kinder, meine Lieben Alle!
Endlich, endlich ein Lebenszeichen von Euch! […] Dass wir uns riesig gefreut haben, mal wieder Eure Handschrift zu sehen, brauche ich wohl nicht zu versichern. […]
Und nun zu uns: Über die Schreckensnacht vom 9.11.38 seid Ihr wohl von mir oder von J. unterrichtet worden. Nachdem J. aus Dachau, wo damals auch Onkel M. und Arthur H. waren, zurückkam, ging er, der Not gehorchend, nach Shanghai. Nur durch Zufall bekam er damals eine Schiffskarte zu 1500 Mark. Kurz vorher hatte ihn die Saarbrücker Gestapo mehrmals aufgefordert, sofort das Land zu verlassen, da sie ihn sonst wieder festneh men müsse. Es wurde ihm gestattet, einen Teil seiner Briefmarken und ein neu angeschaffenes Akkordeon mitzunehmen. Sein Schlagzeug hatte die Nazibande in der Nacht vom 9.11.38 kurz und klein geschlagen.
Infolge des Drängens der Partei wurde uns die Wohnung in der Ottostraße gekündigt, und wir zogen in das der Witwe Nathan L. gehörende Haus. Das war am 31.8.39. Die Möbelwagen mussten Mutti und ich zum größten Teil selbst laden. Zum Glück konnten wir zwölf Stunden vorher noch ein Zimmer für 350 Mark verkaufen, das in der neuen Wohnung doch nicht unterzubringen gewesen wäre. Notar S., der die verzogene Witwe L. vertrat, war sehr anständig zu uns. Todmüde machten wir uns ein provisorisches Nachtlager zurecht. Ein Teil der Möbel stand noch im Möbelwagen auf der Straße. Am 1.9.1939 um 8 Uhr morgens kam der Befehl, die Stadt wegen des Krieges zu räumen. Meine Bemühungen bei einigen maßgebenden Nazis wegen Einreihung in einen Sammeltransport blieben erfolglos. Bei Bäcker K. tranken wir Kaffee. Da es hieß, die Elektrische werde bald den Betrieb einstellen, packten wir für jeden einen Handkoffer. Mutti machte ein Mittagessen zurecht, wir depeschierten an Onkel J., dass wir zu ihm kommen würden. Wir ließen alles stehen und liegen, auch die Möbelwagen auf der Straße, und fuhren mittags zum Bahnhof und nach Saarbrücken. Von dort konnten wir gegen 5 Uhr einen Zug nach Frankfurt bekommen und waren etwa um 10 Uhr in Frankfurt. Nicht viel früher war auch unser Telegramm dort eingetroffen. Die Bemühungen von Onkel J., uns im Haus behalten zu können, waren erfolglos, da 8 Tage früher Frankfurt für den Zuzug von Juden gesperrt worden war. Wir wohnten nun ca. drei Wochen schwarz dort.
Wir versuchten dann, in Offenbach unterzukommen. Die Polizeidirektion gestattete uns einen Monat. Während dieses Monats kam ich ins jüdische Krankenhaus wegen Venenentzündung. Nach der Entlassung meldete ich mich auftragsgemäß bei der Polizei und erhielt die Erlaubnis, in Offenbach zu bleiben. Weitere Juden wurden dann in Offenbach auch nicht mehr zugelassen. Es ging uns in Offenbach verhältnismäßig gut. Mutti arbeitete in einer Kartonagenfabrik, ich machte Heimarbeit für Schuhschmuck. Als die Nazis immer fester Fuß fassten und wir den Judenstern tragen mussten, wurde alles beschwerlicher. Zwei Straßenbahner ließen uns nicht mehr in die Straßenbahn; die Direktion hatte keine Macht über sie. Bei hohem Schnee musste Mutti um halb 7 morgens zur Fabrik, selbstredend brachte ich sie stets hin. Trotz Bescheinigung der Direktion wurde ich von einem Übernazi-Schaffner einige Male aus der Elektrischen ausgewiesen und mir der in Stücke gerissene Fahrscheinblock vor die Füße geworfen. Der größte Teil der Fahrgäste war, wie aus ihren Mienen zu schließen war, damit nicht einverstanden; es hatte aber keiner den Mut, etwas zu sagen. Hitler hatte alles eingefädelt. Die Geschäftsinhaber waren zu uns hochanständig. Wir erhielten hinten herum Zucker, Obst, Taschenlampenbatterien und manches andere, wonach die Nazis sich die Finger geleckt hätten. Den Judenstern mussten wir bei diesen Einkäufen trotz strengem Verbot selbstredend zudecken. Auch telefonieren durften wir nicht mehr. Unsere besten Kleider, Pelze, Radio, Grammophon etc. wurden uns genommen. Trotz bitterer Kälte erhielten wir pro Woche nur einen Zentner Briketts. Ein im Hause wohnender arischer Friseur gab uns geheim als mal was ab; auch schnitt er mir das Haar trotz öfterer Verwarnung seitens der Partei. Er lieh uns einen Kleiderschrank und kaufte von uns ein Oberbett, das wir im Sommer 1939 an Onkel J. geschickt hatten. Wir hatten damals Bett- und Leibwäsche, Kleider, Schuhe, ein silbernes Kaffeeservice und vieles andere an Onkel J. geschickt. Nun ist alles futsch. In Offenbach nahm ich regelmäßig englischen Sprachunterricht und machte auch, wie mein Lehrer sagte, ganz gute Fortschritte. Die beste Methode, die allerdings erst im Frühjahr 1942 zur Anwendung kam, war der Unterricht durch Schallplatten. Ich kaufte ein gebrauchtes Grammophon und ließ aus Berlin die ersten 6 Platten (Stück 7 Mk) kommen. Bei meiner Heimarbeit stand der Apparat neben mir, und eine Platte erzählte mir allerhand auf Englisch. Ein Nachschlageheft war selbstredend dabei. Aber ich hatte wieder die Rechnung ohne Hitler gemacht. Nach höchstens sechs Wochen wurden der Apparat und die Platten, gelinde ausgedrückt, requiriert. 1940 und 41 habe ich drei- oder viermal eine gebrauchte Schreibmaschine gekauft und sie mit anständigem Nutzen wieder verkauft.
Während unsere Sonntagsbesuche bei H. sehr mies waren, waren die bei L. sehr nett. Kuchen brachten wir mit, und Frau L. kochte guten Kaffee, den sie aus Holland erhalten hatte. Mit Frau L. zusammen wohnten drei Schwestern. Onkel J. brachte ihnen oft Kartoffeln, Gemüse etc., was Juden sonst nicht erhalten konnten. Fräulein G. sagte stets: „Da kommt unser Gott, ohne ihn wären wir längst verhungert.“ Als dann von Frankfurt die Juden deportiert wurden, kamen zuerst Fräulein G. und die gelähmte Schwester an die Reihe. Die Schwester, die früher das Geschäft in Frankfurt hatte, war kurz vorher in Frankfurt gestorben. Wohin die Transporte gingen, erfuhr niemand. Viele Personen wurden beim Abtransport rigoros behandelt und misshandelt. Im nächsten Transport kam Frau L. dran. Dieser Transport (Nr. XII/2) bestand aus 1110 Personen und traf am 2.9.42 in Theresienstadt ein. Wie mir Herr Theodor S. später in Theresienstadt erzählte, starb Frau L. bereits am 12.9.1942. Sie bekam gleich nach der Ankunft den dort so gefürchteten Durchfall und konnte vor Ekel nichts essen. Jedenfalls hat sie den besseren Teil erwählt. Frau Theodor S. wurde noch in Frankfurt auf der Straße vom Arm ihres Mannes weg verhaftet, weil sie infolge Wechsel des Mantels vergessen hatte, den Judenstern anzuheften. Obwohl es mir klar war, dass ein Versehen vorlag, denn sonst hätte sie sich doch nicht bei einem mit Judenstern versehenen Herrn eingehängt, und obwohl man sich die allergrößte Mühe gab, konnte man Frau S. nicht mehr aus den Klauen der Henker befreien. Onkel J. bemühte sich sehr. Sie kam in ein Konzentrationslager und starb dort nach kurzer Zeit. Herr S. war inzwischen in Theresienstadt eingetroffen, wo er vom Tode seiner Frau Kenntnis erhielt. Er arbeitete dort als Torwächter. Er sah sehr schlecht aus, wurde später krank (Durchfall) und starb am 16.6.43. Er wohnte in unserer Nähe.
In Offenbach warteten wir täglich auf den Befehl zum Abtransport. Und wir brauchten nicht mehr lange zu warten. Am 17.9.42 gaben wir unsere Habe: Ketten, Matratze, Bestecke, Rasierzeug etc. ab. Handgepäck hielten wir bei. Die Beamten untersuchten alles, ließen uns allerhand unterschreiben und versiegelten dann die Wohnung. Wir trabten mit unserem Handgepäck zum Gemeindelokal, wo wir zwei Nächte auf Stroh lagen. Mundvorrat musste man für 10–12 Tage mit haben. In aller Frühe wurden wir mit riesigem Polizeiaufgebot auf Lastwagen zum Güterbahnhof gebracht und in Personenwagen verstaut. Den enorm zahlreich erschienenen Zuschauern konnte man den Unwillen deutlich vom Gesicht ablesen; aber jeder wusste, dass er bei der geringsten Bemerkung sein Leben aufs Spiel setzen würde. In Darmstadt wurden wir ausgeladen. Schwer bewaffnete SS empfing uns am Bahnhof und gab uns gleich einen Vorgeschmack, was nun kommen sollte. Die Leute, die nicht schnell genug liefen, wurden geschlagen und getreten, dazu wurde von der Horde wie wild geschrien. Ein älterer Herr brach dabei ein Bein. Wir wurden wieder auf Lastwagen verstaut (Frau S., die über zwei Zentner wog, wurde mühsam von vier Herren hinaufgeschoben) und fuhren zu unserem Quartier, einem großen Schulhaus. Dort wurden wir in Sälen zu 45 Personen untergebracht. Der Fußboden war mit Stroh belegt. Verpflegt wurden wir aus der Gulaschkanone, das Essen war nicht schlecht. Dann wurden unser Gepäck und wir selbst auf das Genaueste untersucht; wir wurden kolossal bestohlen. Alles wurde genommen. Herrliche von Tante B. gestiftete pelzgefütterte Handschuhe (Gut für einen Mann im Schützengraben, sagte der Beamte), Füllhalter, Bleistifte, Geld, Briefmarken, Notizbücher, Papiere, Militärpass, Auswanderungspapiere, kurzum alles konnten die Räuber gebrauchen. Muttis Handtasche, Toilettensachen, wurde ganz geleert. Einer alten Dame, die eine Frage stellte, schrie ein ca. 30jähriger Beamte ins Gesicht: „Halt’s Maul, du alte Judensau!“ Deutsche Kultur! Unserer früherer Lehrling Max K., der mit seiner Familie schon vorher in Darmstadt eingetroffen war, suchte uns sofort auf und war uns sehr behilflich. Als wir nach 10 Tagen abreisten nach Theresienstadt, suchte er weinend seine 80jährige Mutter und konnte sie nicht mehr finden. Er selbst mit Frau und Tochter war in einem nebenan liegenden Schulhaus untergebracht, da Leute unter 65 Jahren für einen anderen Transport bestimmt waren, aber mit uns nicht verkehren sollten. Des Nachmittags wurden wir dort täglich eine halbe Stunde im Kreise herumgeführt. Weshalb? Als ich am Morgen nach der ersten Nacht auf den Korridor trat, kam ein Beamter auf mich zu mit den Worten: „Fassen Sie mal hier an!“ und zeigte auf ein an den Boden liegendes, in eine Bettdecke gewickeltes Etwas. Unter dem Vorantritt des Beamten trugen wir zu dreien das Bündel, es war die Leiche einer nachts verstorbenen Dame, in den Keller und waren entlassen. Fast täglich hatten wir eine Revision oder irgendeine Unterschrift zu leisten.
Am 27.9.42, einem regnerischen Sonntag, morgens 6-7 Uhr ohne Frühstück antreten zur Abreise der alten Leute. Wieder auf Lastwagen zum Bahnhof, in Personenwagen eng zusammengepfercht. Im Zug sollte es Kaffee geben, er kam aber nicht. Die Türen waren verschlossen. Die Fenster durften nicht geöffnet werden. Am 28.9.42 um 14 Uhr kamen wir bei entsetzlicher Hitze an dem ¾ Stunde von Theresienstadt entfernten Bahnhof an. Mutti hatte vier Kleider übereinander an, ich zwei Anzüge und zwei Paletots. Nur die Nichtgehfähigen wurden auf Lastwagen in die Stadt gefahren, wir mussten laufen. Die Hitze, die Kleidung, das Handgepäck, es war ein furchtbarer Weg; wir gingen circa 1 ½ Stunden. Viele blieben am Wegrand erschöpft liegen. Wir waren 1287 Personen. Unterwegs begegneten uns ca. 6 Leichen, die in die Leichenhalle gebracht wurden. Wir kamen in die Schleuse, eine Art Zollstelle, wo ein entsetzliches Gedränge herrschte. Das, was man uns in Darmstadt noch gelassen hatte, wurde uns dort abgeholt. Dort verloren wir auch Frau S. aus den Augen. Es gab dort unsere Quartierzettel. Glücklicherweise kamen Mutti und ich in einen Block zusammen, es war Q 211. Zwischen 19 und 20 Uhr trafen wir vollkommen erschöpft dort ein. Unser aufgegebenes Gepäck, auch Schlafdecken, war noch nicht da, aber wir schliefen trotzdem auf der Erde bald ein. Muttis Zimmer (12-15 Personen) war von meinem Zimmer (10 Personen) ca. 50 Schritte entfernt. Unser Essen mussten wir in der ca. 300 m entfernten Magdeburger Kaserne holen. Da dort mehrere tausend Menschen Essen holten, musste man oft stundenlang im Freien Schlange stehen. Überhaupt war bei allen Gelegenheiten das Schlangestehen etwas Selbstverständliches. Die ersten acht Tage waren mit Gepäcksuchen und mit Versuchen, die Lagerstätte zu verbessern, ausgefüllt. Das Gepäck kam nur tropfenweise in unseren Besitz. Einmal kam ein Teil in dieser Kaserne an, das andere Mal in jener Kaserne. Es gab dort 6-8 Kasernen, in denen diejenigen untergebracht waren, die nicht wie wir in in Häuserblocks wohnten. Gut war es nirgendwo, Wanzen und Flöhe überall. Neben mir an der Erde lag Rabbiner Dr. F., ehemals erster Sekretär der Buebois Loge, neben diesem Dr. L. aus Berlin, der bereits mit 18 Jahren katholisch getauft worden war. L. knabberte stets in aller Frühe trockenes Brot, und jeden Morgen flüsterte Dr. F. mir zu: „Der Goi ist schon wieder am Fressen!“ Dr. F. war1863, L. 1869 geboren. Beide starben in diesem Zimmer, vermutlich infolge Unterernährung. Beide erhielten, genau wie wir, keine Päckchen und keine Pakete. Aus zusammengesuchten Brettern und Latten zimmerte ich mir ein Gestell, auf welches ich meine Matratze legte. Mutti hatte viele Monate keine Matratze. Die meinige lehnte sie energisch ab. Zum Glück hatte Onkel J. uns einige Geschirre mitgegeben, die wir im Handgepäck mit uns trugen, sonst hätten wir tatsächlich nicht gewusst, womit wir unser Essen fassen sollten. Auch zwei Feldflaschen und Sonstiges, Rucksäcke etc. hat er uns noch in letzter Minute besorgt. Wir hatten aus Offenbach auch zwei schöne neue Handkoffer mitgenommen und aufgegeben, aber in Theresienstadt wurden alle Koffer von der SS beschlagnahmt und in die Aussiger Kaserne gebracht. In dieser Kaserne war ein Warenlager geschleuster Gegenstände, mit denen man 100-200 Warenhäuser wie Tietz bequem hätte einrichten können. Nach und nach verbesserten wir unsere Lagerstätte, so gut es eben ging. In meinem Zimmer wohnten außer den oben genannten zwei noch einige gebildete Herren. Da es aussichtslos war, einen Büro- oder sonst guten Posten zu bekommen, meldete ich mich freiwillig zum Straßen-Reinigungsdienst. Es gab dafür etwas mehr Margarine und etwas mehr Zucker. Herr W. und Frau B. trafen wir nach einigen Tagen, sie waren einige Monate vor uns mit einem rheinischen Transport in Theresienstadt eingetroffen. Sie erzählten uns u. a., dass 1/2 Jahr früher 17 junge Männer in Theresienstadt gehängt wurden, weil sie nach Hause schrieben, sie hätten Hunger. Die Exekution musste von jüdischen Kameraden vorgenommen werden. Wir trafen auch Fritz S. mit Frau und Tochter, Isidor L. und andere. Das Arbeiten in der frischen Luft bekam mir sehr gut, aber der Appetit wurde dadurch leider größer. Unsere Margarine vertauschten wir gegen Brot, da Brot und Kartoffeln zum Sattwerden doch die Hauptnahrungsmittel sind. Auch Herr und Frau Siegfried W., ein Bruder von Frau Nathan L., der in der Adlerstraße 14 die Etage unter uns bewohnte, trafen wir dort. Es waren sehr nette Leute, die früher in Landau wohnten. Als wir sie Anfang November 42 mal wieder besuchten, sie wohnten beide in der Dresdener Kaserne, fanden wir die arme Frau in Tränen aufgelöst allein, ihr Mann war tags zuvor zur Kremation gekommen. Als sie ihn, der drei Tage krank war, in der Krankenstube der Kaserne besuchen wollte, begegneten ihr auf dem Flur zwei Träger, die auf der Bahre eine ausnahmsweise große Leiche trugen ( Herr W. war ca. 2 m groß); sie frug nach dem Namen, es war ihr Mann. Denkt Euch, wie furchtbar! In New York haben sie eine verheiratete Tochter. In Theresienstadt starben auch mindestens 30 Personen aus Offenbach, darunter auch unsere Wirtin, Frau S. Sie konnte bei dieser Kost unmöglich am Leben bleiben. Wir brachten ihr öfters Brot, Knödel etc., was wir entbehren konnten. Ihr werdet fragen wieso? Mutti kam auf die Idee, durch Strümpfestopfen und sonstige Stopf- und Näharbeiten Lebensmittel zu verdienen. Ihr erster Kunde war ein Essenkartenknipser, dem sie einen Pullover stopfte. Sie ging auf die Suche und fand gute Kunden. Sie fußte auch Strümpfe an und war bald sehr tüchtig in diesem Fach. Nun hatten wir fast immer reichlich Essen. Leider kamen oft sehr gute Kunden in Transporten weg. Die Tschechen, die größtenteils viele und große Lebensmittelpakete von zu Hause erhielten, konnten gut ihr in Theresienstadt gefasstes Essen abgeben. Außerdem hatte Mutti auch Kunden und Kundinnen beim Küchenpersonal und bei den Essenausgebern. Ohne diese zusätzlichen Lebensmittel wäre ich auch an Unterernährung zugrunde gegangen. Frau S. starb am 31.12.42, Herr W. am 10.2.43, Frau B. am 20.2.43, Fritz S. am 5.2.43. Frau S., die sehr oft krank war, kam dann später mit ihrer Tochter in einen Transport. Auch Mutti und ich waren sehr oft krank. Mutti rackerte sich sehr ab, sie war direkt eine Heldin. Eines Tages wog sie mit Kleidern noch 72 Pfund. Meinen Straßenkehrer-Posten hatte ich längst aufgegeben. Eines Tages gab es in unserem Block Bettstellen, d. h. aus rohen Brettern zusammengenagelte, in der Höhe zwei übereinander, in der Breite eine dicht an der anderen. Damit wuchs die Wanzenplage enorm an. Mutti hat mal zeitweise jede Nacht 200-300 Stück gefangen. Es war kaum zum Aushalten.
Der Winter 1942/43 war sehr kalt und nass, und wir froren viel. Auf der Straße hatte fast jeder Tropfen an der Nase. Um das Essen beim Nachhausetragen nicht kalt werden zu lassen, aßen wir es größtenteils gleich beim Empfang im Hof der Magdeburger Kaserne. Wenn einem der Tropfen von der eigenen Nase ins Essen fiel, beachtete man das auf die Dauer nicht mehr; wenn einem aber der Tropfen von Nachbars Nase hineinfiel, war das furchtbar peinlich, aber man konnte das Essen doch nicht wegschütten.
Nach den fehlenden vier Gepäckstücken sowie nach in Offenbach aufgegebenen Matratzen, Oberbetten etc. frugen wir alle paar Tage, aber sie kamen nie in unseren Besitz.
Da es viele Leute gab, die den Mut besaßen, von Hause Geld versteckt mitzunehmen, blühte der Schwarzhandel enorm. Es wurden oft Razzien abgehalten, und diejenigen, bei denen Geld oder Zigaretten gefunden wurden, kamen bestimmt in den nächsten Transport. Sie haben ihr Leben leichtsinnig aufs Spiel gesetzt. Für Zigaretten wurden durchschnittlich 2-8 Mark pro Stück gezahlt. Für ein ganzes Brot 20-60 Mark. Leckerbissen hatten Phantasiepreise. Ein Stück Rasierseife bis zu 25 Mark.
Mutti sammelte auch Brennnesseln, die sie gegen Lebensmittel vertauschte. Die Leute machten davon Gemüse, um dem Körper Vitamine zuzuführen. Wir bekamen in den ersten zwei Jahren weder Gemüse noch Obst. Es gab hauptsächlich Extrasuppen und Kartoffeln. Später gab es dann diese dicken Rüben, womit zu Hause das Vieh gefüttert wird. Infolge des Vitaminmangels gab es außer den Sterbefällen viele Nachtblinde. Eines Tages erschien aus dem Reich eine Kommission arischer Ärzte, um diese Augenkrankheit zu studieren. Auch ich war einige Tage davon befallen, ich musste von allem was haben. Man hatte aber glücklicherweise ein erstklassisches Mittel in der Augenambulanz, und zwar „Vogan“. Ich bekam einmal 10 und einmal 5 Tropfen zu trinken, und die Nachtblindheit war weg. Überhaupt waren wir mit den Ambulanzen gut dran. Es gab dort erstklassische Ärzte. Ein Augenarzt Dr. S. aus Wien und ein Hofrat Dr. …aus Wien waren enorm tüchtig. Der letztere starb auch an Unterernährung. Gegen Durchfall hatte man nur Bolus alba und zuweilen, aber nur selten, auch mal Tanalbin. Tierkohle gab es immer, aber die nützte in Theresienstadt nichts. Opium gab es leider nicht. Ein Schieber verlangte von mir einmal 10 Mark für eine Tanalbintablette. Mir sowohl wie Mutti half sehr gut ein Thermophor. Mutti erhielt einen von einer Kundin, er hat uns auch hier schon gute Dienste geleistet. Als die Ernährung anfing, besser zu werden, gab es auch mal Marmelade; wir vertauschten sie wieder gegen Butter.
Am 1.4.43 gab es bei uns einen kritischen Tag erster Ordnung. Ich ging am Abend zuvor gesund zu Bett. Als ich morgens 8 Uhr noch immer im Bett lag und röchelte, rief man Mutti und den Arzt. Die Kameraden erklärten, ich hätte bereits in der Nacht geröchelt, hielten es aber nicht für nötig, Mutti zu benachrichtigen. Ich wurde untersucht, und man hielt mich für in der Agonie liegend. Ich erhielt weder eine Spritze noch sonst etwas. Der Arzt und die Umgebung hatten mich aufgegeben. Als der Arzt mein Augenlid hochklappte und Mutti das verlöschende Auge sah, schrie sie furchtbar auf und rief dauernd: „Männchen, bleib doch bei mir, lass mich doch nicht allein!“ Gegen 11 Uhr schlug ich die Augen auf und sah erstaunt um mich. Ich fühlte mich sehr schwach und wusste von nichts. Mutti päppelte mich in einigen Wochen wieder hoch, teilweise leider auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit. Etwa 14 Tage nach dem Vorfall (es war ein Herzkollaps) frug ich: „Mutti, hast du mir damals etwas ins Ohr geschrien, mir ist so, als ob du mir etwas zugerufen hättest.“ „Ja“, sagte sie. „Ich habe gerufen, du sollst bei mir bleiben, und Gott hat den Ruf gehört.“ Jedenfalls war meine Rettung ein großes Wunder.
Herr M. aus Dillingen, den ich oft sah, begegnete mir eines Tages weinend auf der Straße: „Herr Schloß, ich bin ein armer Mann, meine Frau ist diese Nacht gestorben.“ Nathan S. und sein ältester Bruder starben auch in Theresienstadt, der jüngere Bruder kam in den Transport.
Des Samstags wurde gearbeitet wie werktags. Die Juden haben gezeigt, dass sie alles arbeiten können. Sie bauten auch eine Bahn von der Hauptstrecke nach Theresienstadt, ein schweres Stück Arbeit, da auch starke Festungsmauern niederzulegen waren. Gottesdienstgelegenheiten gab es reichlich, samstags war ich auch dort. Sehr oft wurde von den Rabbinern abwechselnd gut gepredigt. Der polnische Gottesdienst allerdings gefiel mir gar nicht. Die Polen und die Tschechen waren in der Tora und den anderen Schriften kolossal erfahren. Aus Prag und Wien hatten wir mehrere Rabbiner. Am ersten Jahrestag unseres Eintreffens in Thersesienstadt veranstaltete Rabbiner Dr. N. aus Frankfurt a. M. eine Gedächtnisfeier für die von unserem Transport (XVII/1) in Theresienstadt Verstorbenen. Von den 1287 Transport-Teilnehmern waren 800 Personen tot. Die Zahl aller Toten in Theresienstadt betrug Ende September 1943 ca. 27000. Die Zahl der Ghetto-Insassen schwankte zwischen 35000 und 60000. Transporte gingen, Transporte kamen. Als W. tot war, wollte ich ihm, der doch stets so viel Wert auf Kowet legte, einen Nachruf bei der Leichenfeier verschaffen. Ich ging zum Rabbiner Dr. S., der mir sagte, dass es ohne die Zustimmung des Oberrabbiners Dr. U (aus Prag oder Wien war der Herr) nicht möglich sei, er wisse ja übrigens auch nicht, ob er am Tage der Kremation zu amtieren hätte. Es gab damals täglich drei Leichenfeiern: um 8 Uhr, um 10 Uhr und um 14 Uhr. Jede Leiche wurde, nachdem sie in dem an der Leichenhalle anschließenden Raum von freiwilligen frommen Helfern gewaschen war, in einen primitiven Holzsarg gelegt. Die Särge wurden mit Pappdeckelstückchen versehen, auf denen die Namen standen, und in der Halle, die sich dicht vor der Stadt befand, aufgeschichtet. Bei W.s Feier waren es genau 50 Särge. Bei dem Oberrabbiner war es schwer, etwas zu erreichen. „Hier sind wir alle gleich, und Ausnahmen sollen keine gemacht werden.“ Ich ließ mich nicht abweisen, wies auf die Verdienste W.s um die Gemeinde, den Friedhof, die Armenpflege, Sterbekasse etc. und seine ca. 40jährige Tätigkeit hin, und meinem Antrag wurde dann stattgegeben. Ich machte dem bei der Leichenfeier amtierenden Rabbiner die erforderlichen Angaben, und bei der Feier wurde Herrn W. ein schöner Nachruf gewidmet. Der Rabbiner begann: „ Wenn es hier auch nicht Sitte ist, einen einzelnen Menschen besonders hervorzuheben, so müssen wir doch eines Mannes, und zwar Herrn Ludwig W. aus Saarlouis gedenken, der …“ Eine Schwester und eine Schwägerin von W. waren mehr als erstaunt, als sie diese Worte hörten. Frau B. konnte der Feier nicht beiwohnen, sie hatte kurz vorher einen Armbruch erlitten. Sie starb dann, wie ich ja schon erwähnte, 10 Tage später. […]
Eine besondere Klasse bildeten in Theresienstadt die Prominenten. Sie trafen, von der Gestapo zu Hause als prominent bezeichnet, in Theresienstadt ein. Jedenfalls hat das zu Hause viel Geld gekostet. Sie hatten in Theresienstadt abgeschlossene Zimmer mit richtigen Möbeln etc., hatten gute Büro- oder sonstige Posten und kamen auch mit Essen nicht zu kurz. Rechtsanwalt Albert M. aus Stuttgart, der mit Frau im April 1943 ankam und ganz erstklassische Zeugnisse mitbrachte, er war Reserve-Offizier mit EK 1, konnte es nicht erreichen, als prominent bezeichnet zu werden. Er wurde schlapp und sehr viel krank; Mutti besorgte ihm Schleimsuppen etc., die er stets gierig verzehrte. Seine Frau musste in der Nähstube arbeiten. Gesund wurde Albert M. erst, als der zweite Vetter von Mutti, Dr. Julius M., ebenfalls mit Frau aus Amsterdam nach Theresienstadt kam, der seinen Bruder Albert dann gesund machte. Er kam dann als Zensor zur Post. Die Zensoren hatten viel Arbeit, dabei ist unsere Post, die vom Zensor zur SS ging, zu 95-100% nie zum Adressaten gelangt. Ebenso war es auch umgekehrt. Wir bekamen während des 28monatigen Aufenthalts eine einzige Postkarte. […]
In Theresienstadt kamen im August 43 1200 verwaiste polnische Kinder im Alter von 3-12 Jahren, verlumpt, verlaust, in jeder Beziehung verwahrlost, an. Sie schrien dauernd: „Vergast uns nicht, erschießt uns lieber!“ Was mit ihnen geschah, erfuhren wir nicht.
Eine halbe Stunde von Theresienstadt entfernt gab es eine Filiale, in der die SS nach dem Schema von Buchenwald gehaust haben soll. Man hörte täglich Gewehrschüsse. Die Bestraften von Theresienstadt kamen dorthin. Man sah niemals einen wieder. Entweder wurden sie getötet oder von dort weitertransportiert. Die Filiale, die auch dem Th.-Kommandanten unterstellt war, hieß „Die kleine Festung“. Auch vor diesem Los hat mein Schutzengel mich bewahrt, und zwar: Ich war eines Tages bei bitterer Kälte beim Kohlenschleusen, als hinter mir eine Kommandostimme ertönte. Ich drehte mich um und sah den Lagerkommandanten, SS-Obersturmführer R., mit seinem Adjudanten vor mir stehen. „Hast du nicht gelesen, was dort steht?“ sagte er undzeigte auf ein in der Nähe neu angebrachtes Schild, auf dem zu lesen war, dass das Nehmen von Kohlen streng verboten sei. Ich nahm den Hut ab, die Knochen zusammen und sagte: „Nein, ich habe nicht hingesehen.“ Er sah mich einen Moment scharf an und schrie dann: „Leer deinen Kübel aus!“ und ging, es war kaum zu glauben, weiter. Mit Herzklopfen und dem leeren Kübel schwankte ich nach Hause. Wäre der Adjudant, der ein ganz gefährlicher, gefürchteter SS-Offizier war, alleine gewesen, hätte er mich bestimmt verhauen und nach der kleinen Festung geschickt. Wiederum eine wunderbare Errettung! Die ganz unverständliche Milde des Kommandanten schreibe ich dem Umstand zu, dass damals (Dezember 44) er schon wusste, dass die Tage Deutschlands und der Herrlichkeit der SS bereits gezählt waren. Im Allgemeinen hatte sich der Ton des Kommandanten Ende 44 zu unseren Gunsten geändert. Weshalb ich Kohlen geschleust habe: Wir hatten bitter kalt, in Muttis Stube fehlten von 8 Fensterscheiben nur 4 Stück. Ein kleiner Ofen war da. Wenn man genug Holz und Kohlen schleuste, konnte man die Stube wenigstens einigermaßen warm machen. Man konnte dann auch auf dem Ofen Brot rösten. (Das Brot war manchmal miserabel und manchmal prima), man konnte sich geschleuste Kartoffeln kochen, auch Malzkaffee etc. Die Tschechen, die alle Zutaten von zu Hause erhielten, kochten und backten sich allerhand gute Sachen. Wenn Mutti von ihrer Kundschaft als mal Haferflocken bekam, wurden diese wie Gold verwahrt für die leider so oft eintretenden Durchfälle, die stets mit sehr schädlichen Darm-Entschleimungen verknüpft waren. Einmal, als Mutti mal wieder schwer daniederlag und auch ihr sie täglich besuchender Vetter Dr. M. ihr nicht helfen konnte, erschienen vor Einbruch der Dunkelheit zwei Krankenträger mit einer Bahre, um Mutti auf Veranlassung der sie behandelnden Ärztin, die nebenbei bemerkt sehr tüchtig war, ins Krankenhaus zu bringen. Ich wohnte damals in einem anderen Block, war aber glücklicherweise bei Mutti, als die Träger kamen. Mutti hatte eine furchtbare Angst vor dem Krankenhaus. Da drei ihrer Zimmergenossinnen nur als Leichen aus dem Krankenhaus kamen, redete sie sich ein, dass auch sie dort sterben müsse. Ich sagte mir, dass eine derartige Einstellung den Zustand nur verschlimmern könnte, und beschloss, uns zu weigern, obwohl auch Dr. M. die Krankenhausbehandlung vorzog. Wir logen, dass sie sich besser fühle, sie hatte hohes Fieber und blieb in ihrer Stube. Unsere Schutzengel haben uns wieder beigestanden, und Mutti wurde allmählich wieder gesund. Nach diesem Fall wog sie noch 72 Pfund. Wenn ich auf der Straße, sie lief ja immer schneller als ich, hinter ihr herging und die Kinderbeinchen sah, kamen mir stets die Tränen in die Augen. Trotzdem musste das Beste vom Essen immer ich essen. Wir hatten bei der Ambulanz uns gut gesinnte Ärzte, die uns öfters Diät-Kost verschrieben. Diese Speisen, die zwar etwas weniger waren als die Normalkost, waren dafür schmackhafter und besser zubereitet. Die Verordnung gab es aber nur für 14 Tage. Es gab auch Rekonvaleszenten, denen sie des Abends als Zusatz zur Normalkost gegeben wurde, auch jeweils für 14 Tage. Auch diese erhielt Mutti einige Male. Die Prominenten allerdings erhielten sie öfters. Überhaupt war Korruption an der Tagesordnung. Was das oben besprochene Schleusen betrifft, gab es das nicht nur bei Holz und Kohlen, sondern in verstärktem Maße auch bei rohen Kartoffeln. Es beteiligten sich dabei die feinsten Leute, ausgeschlossen diejenigen Tschechen, die genügend Kartoffeln von zu Hause geschickt bekamen. Als ich einmal in dunkler Nacht Schmiere stand, während ein Zimmerkollege mit einem langen Stock, an dem unten ein spitzer Nagel befestigt war, die Kartoffeln aus einem Kellerloch der Hamburger Kaserne herausfischte, rief uns eine vorbeigehende Dame zu: „Meine Herren, das kann Polen kosten!“ Gemeint war Deportation nach Polen. Es überlief mich kalt, aber richtiger Hunger tut auch weh. Auch Mutti schleuste, wie alle, Holz, Kohlen und Kartoffeln. Man erlangte darin schließlich eine Fertigkeit, die einem New Yorker Gangster Ehre gemacht hätte. Zum Brennen gab es in einem großen Sägewerk, in dem die Betten, Särge, Stühle und Stühle für die Prominenten angefertigt wurden, auch Hobelspäne, und zwar von 11.15-12.15 Uhr, leider gerade um die Essenszeit. Man musste wie überall Schlange stehen. Zeitweise fungierte als Ausgeber ein Herr Oskar S. aus Trier, dessen Vater ein Vetter meines Vaters war und der mit mir auf dem Gymnasium in Trier auf der Schulbank saß, sowie ein Herr L. aus Bollendorf. Bevorzugen konnten mich die Herren aber selten, da die übrigen Reflektanten zu sehr dagegen aufbegehrten. Ein sehr übler Umstand war auch, dass wir die letzten zwei Jahre keine Uhr hatten, wir haben heute noch keine. Ein Fachmann (Gauner) in Theresienstadt ließ sich die Reparatur im Voraus bezahlen (in Lebensmitteln 15 Mark), aber die meinige bekam ich überhaupt nicht wieder, die von Muti war schlechter als vorher, sie kann nun gar nicht mehr repariert werden. Hier in der Schweiz (dem Land der Uhrenindustrie) wirkt sich dieser Mangel besonders unangenehm aus, da die Mahlzeiten etc. auf das pünktlichste eingehalten werden müssen.
In Theresienstadt hat man auch Witze gemacht, z. B.: Wie ist der Unterschied zwischen dem Jahre 1938 und1943? Im Jahre 38 hatte ich Kragenweite 43, im Jahre 43 habe Kragenweite 38. Politische Nachrichten schwirrten dauernd herum, sie waren aber zu schön, um wahr zu sein. Auf alle Fälle hatten wir das letzte Jahr (1944) die Überzeugung, dass es mit Hitlerdeutschland abwärts geht. Der eine meinte, es kann höchstens noch zwei Jahre dauern, der andere sagte, es wird noch 4-6 Jahre dauern. Aber allgemein war man fest davon überzeugt, dass es mal ein Ende nehmen müsse. Nun frug man sich bange: „Wirst du es erleben?“ Infolge Verlust meiner 11 englischen Lehrbücher konnte ich in Theresienstadt den Unterricht nicht fortsetzen, der Kopf stand mir aber auch nicht danach. Ein einziges Buch, das erstklassische Wörterbuch von Langenscheidt, hatte man mir, vermutlich aus Versehen, gelassen. Der verstorbene Rabbiner Dr. F. hat es sich fast täglich ausgeliehen, er wollte auch zu seiner in den USA verheirateten Tochter. Im Jahre 1944 erbte ich dann von einem in Transport gekommenen Herrn ein Lehrbuch: Englisch lernen ein Vergnügen von Max Callum und fing dann wieder von vorne an. Hier in der französischen Schweiz soll man nun Französisch sprechen. Wie ist das nun bei einem so alten Graukopf zu machen? Das bisschen Französisch, das mir Herr J. während der Besetzungszeit beibrachte, habe ich in den zehn aufregenden Jahren auch wieder vergessen. In jedem Satz, den ich hier mit den Einheimischen spreche, kommen stets drei Sprachen vor. Man lacht, aber das macht mir nichts aus.
Habt Ihr nie etwas gehört von der Ölsardinen-Aktion für Theresienstadt? Ein Versandkonsortium in Lissabon forderte in Inseraten in US-Zeitungen auf, ihm einige Dollar und die Anschrift eines in Theresienstadt befindlichen Lagerinsassen mitzuteilen. Das Konsortium sandte dann alle paar Wochen je nach der Höhe der Einzahlungen per Einschreiben Päckchen mit je zwei Dosen Ölsardinen, die auch ankamen. Die Päckchen der verstorbenen Adressaten und der in Transport Gekommenen wurden öffentlich ausgeschrieben und konnten von Blutsverwandten, deren Empfangsberechtigung beim Ghettogericht durch Aussagen zweier Zeugen nachgewiesen werden mussten, behoben werden. Eines Tages lasen wir in den öffentlichen Ausschreibungen den Namen Josef M. Da der Versuch nicht strafbar war, machten wir ihn, und es klappte. Die zwei Vettern von Mutti bezeugten, dass Clothilde S. die Tochter des in Köln verstorbenen Josef M. sei und dass Josef M. Verwandte in den USA hätte. Auf dem Päckchen war nie ein Absender oder Veranlasser der Sendung angegeben. Wir warteten immer auf Sardinen von Euch, aber es kamen keine. Kurze Zeit danach sahen wir auf den Listen den Namen Josef M. aus Frankfurt. Auch diese Päckchen wurden uns nach der Erfüllung der vorgeschriebenen Formalitäten ausgehändigt. Jedenfalls waren bei diesen letzteren Päckchen seine Kinder Walter und Inge die Veranlasser. Diejenigen Päckchen, die nicht ausgehändigt werden konnten, wurden von der jüdischen Verwaltung an Kinder und schwache Erwachsene verteilt. Dass der Empfang von Sardinen jeweils eine riesige Freude auslöste, brauche ich wohl nicht zu sagen. Im Jahre 1944 erhielten auch Leute über 70 am Geburtstag ein Geschenkpäckchen, enthaltend eine Margarine, etwas Zucker, etwas Confect, etwas rohe Kartoffeln und eine Dose Sardinen. Am 19.12.44 erhielt ich das Päckchen auch.
Eines Tages fing man an, das Ghetto ganz kolossal zu verschönern, kein Mensch wusste weshalb. Die Straßen wurden gewalzt, auf dem großen Marktplatz wurde Rasen gepflanzt, viele Bänke wurden aufgestellt und hört, hört! ein Musikpavillon dort errichtet. Es wurde eine richtiggehende Musikkapelle gegründet, es gab dort viele erstklassige Musiker, und ein großes Kaffeehaus eingerichtet. Viele Häuser wurden neu angestrichen und in vielen wurden Waschräume und Wasserklosetts angebracht. Im Kaffeehaus gab’s Kaffee mit Zucker für zwei Ghettokronen ohne Konzert und für drei mit Konzert. Die Aufenthaltszeiten waren jeweils zwei Stunden: 10-12, 12-14, 14-16, 16-18 Uhr. Auch für die Freizeitgestaltung wurde viel getan, und viele wissenschaftliche Vorträge wurden gehalten. Wegweiser gab es an jeder Ecke; die Bastei, eine ganz hoch gelegene alte Befestigungsanlage, von der man einen ganz herrlichen Blick in die Umgebung hatte, wurde für die Juden freigegeben, ein Sprengwagen fuhr durch die Straßen, es gab reichlich Badegelegenheiten, für jüngere Personen Brausebäder, für Krüppel und ältere Leute Wannenbäder, Straßenbeleuchtung etc., kurzum: es gab dauernd Verschönerungen, so dass es aussah, als wolle man aus dem Ghetto einen Badeplatz machen. Niemand hatte eine Erklärung für diese paradoxe Geschichte. Es wurde auch von der SS ein Film gedreht, der alles in schönstem Licht zeigte. Sicherlich sollte dieser Propagandafilm der Welt die Augen zuschmieren, da man von den Gräueltaten in ausländischen Zeitungen lesen konnte. Am 11. November 1943 hieß es: Volkszählung! Am Abend vorher Fassung von Brot, Zucker und Leberpastete (Fischleber), 4 Uhr aufstehen, 6.30 Uhr antreten, 7 Uhr Abmarsch nach dem etwa eine Stunde von Theresienstadt entfernten Riesenexerzierplatz, der von Soldaten mit Gewehr umsäumt war. Alle mussten mit, nur die nicht gehfähigen und bettlägrigen Kranken blieben in Kasernen zusammengelegt zurück. Was sollte das bedeuten? Zählen konnte man uns doch bequemer in den Kasernen und Häusern, außerdem hatte man ja genaue Listen, auf denen keine Person fehlen konnte. Wir wurden in Kolonnen zu 100 aufgestellt, so wie Hitler zu den Nürnberger Parteitagen seine Leute aufstellen ließ. Da standen wir den ganzen Tag und wurden ununterbrochen gezählt. Es war kalt und regnete, wir hatten Hunger und Durst und wurden schlapp, viele legten sich auf die nasse Erde. Das dauerte bis 18 Uhr, es war längst dunkel, keine Lampen. Man munkelte, dass man durch diese Schikanen einen Aufruhr provozieren wollte, bei welcher Gelegenheit dann alle durch das bereit stehende Militär erschossen werden sollten. Der Abmarsch, der nun begann, war das Fürchterlichste, was ich in meinem Leben mitgemacht habe. Ohne Ordnung, ohne Kommando, in ganz entsetzlichem Wirrwarr, strömte alles dem einzigen Ausgang nach der Stadt zu. Der Platz war von vielen Wassergräben durchzogen, die man in der Dunkelheit aber erst bemerkte, wenn man hineingestolpert war. Alles schrie durcheinander, Kinder weinten, Mütter riefen, es war ein Riesenknäuel von Menschen, das nicht zu entwirren war. Ging man eine halbe Stunde nach rechts, dann wurde gerufen, man müsse sich viel weiter links halten, um den Ausgang zu erreichen, genauso war es aber auch umgekehrt. Nachdem wir bereits über zwei Stunden so geschunden worden waren, brach Mutti ohnmächtig zusammen. Lang hinfallen konnte sie nicht, da alle zu eng ineinandergepfercht waren, sie sank in die Knie und auf die nasse Wiese. Ich war nicht in der Lage, ihr etwas zu geben, da nichts da war, einen Wassergraben konnte man in der Dunkelheit nicht sehen und in dem Gedränge auch nicht erreichen. Um Hilfe rufen war ganz zwecklos. Eine Dame neben mir gab dann ein Stückchen trockenes Brot, ich steckte es Mutti langsam in den Mund, und sie erholte sich bald. Das Gewirr ging weiter. Endlich, gegen 22 Uhr, konnte man in der Ferne die Lichter von Theresienstadt sehen. Es war dann 23 Uhr, als wir zu Hause waren. Für den Weg von einer Stunde haben wir fünf Stunden gebraucht. Wie viele Tote es gab, weiß ich nicht mehr. Todmüde legten wir uns hin und dankten Gott, daheim zu sein.
Die vielen Transporte, die stets um Mitternacht bekanntgegeben wurden, veranlassten sehr oft einige Selbstmorde. Die Leute zogen den Freitod einem ungewissen Schicksal in Polen oder sonst einem KZ vor. Auch in Muttis Stube nahm sich eine Dame, Frau W., das Leben, nachdem ihr Mann vorher an Entkräftung gestorben war.
Im März 44 gab es für uns wieder kritische Tage erster Ordnung. Vier Herren, darunter auch ich, wurden in einen anderen, etwa 7 Minuten weiter entfernt liegenden Block (Q 418) verlegt. Am Umzugstag gab es Schnee und Regen, und ich erhielt ein miserables Quartier. Kein Bett, miserable Zimmergenossen, 52 Treppenstufen. Es begann für uns eine miese Zeit. Nach etwa 6 Wochen konnte ich im selben Hause ein anderes Zimmer mit Bett bekommen. Zwei Brote für den Hausältesten. Überhaupt war in Theresienstadt der Hausälteste ungefähr dasselbe, was in Preußen ein Minister war; es war sogar eher möglich, zu einem Minister zu gelangen als zu einem Hausältesten. In dem neuen Zimmer hatte ich anständige Zimmergenossen. Ich bekam dort auch mal wieder Durchfall mit 39 Grad Fieber. Mutti, die noch immer in Q 211 wohnte, blieb zwei Nächte auf einem Stuhl sitzend bei mir. Da dieser Block (Q 418) vorher durch Vergasung entwanzt worden war, gab es damals bei mir keine Wanzen. Muttis Block dagegen ist überhaupt nie entwanzt worden. Sie hatte furchtbar unter dieser Plage zu leiden. Schon zu Hause musste sie jeden Floh, den die Kundschaft brachte, haben. Im Sommer 44 wurde die Wanzenplage unerträglich, die vielen Flöhe beachtete man schon gar nicht mehr. Mutti schlief auf der Erde und fing trotzdem jede Nacht einige hundert Wanzen. Man kam dann auf die Idee, im Freien zu kampieren. Es wurden im Hof Bretter und Hocker auf die Erde gelegt. Matratzen und Decken hinuntergetragen, und Mutti schlief dort tadellos. Es kam auch mal ein Gewitterregen, alles musste ins Haus flüchten, und die Betten wurden nass. Es schliefen in Muttis Hof ca. 50 Personen.
Eines Tages hieß es, es kommt eine Besichtigungskommission vom Roten Kreuz. Es wurde geschrubbt und geputzt und alles sauber gemacht; das, was man nicht sehen sollte, wurde weggeschafft. Die Bretterzäune, die unsere Bewegungsgrenzen markierten, wurden abgerissen, und in den Häusern gab es dauernd Vorbesichtigungen durch Haus- und Blockälteste etc. Die Besichtigungskommission kam auch eines Tages in mehreren Autos in Begleitung von Prager SS-Offizieren angefahren. Aber, o Graus! Die Kommission wurde von der SS geführt, es wurde ihr nur das gezeigt, was man für angebracht hielt, die kleine Festung hat sie nie zu sehen bekommen. Aber das bessere und reichlichere Essen, das es an diesem Tage gab, zeigte man ihr. O armes Rotes Kreuz, wie hast du dich narren lassen! Ich habe neulich in einer Schweizer Zeitung einen schweren Vorwurf gegen das Rote Kreuz gelesen, der besagte, dass bestimmt bei energischem Auftreten dieser internationalen Organisation viele der in den Lagern vorgekommenen Gräueltaten hätten verhütet, mindestens aber vermindert werden können. Allein das Rote Kreuz war in der Lage, den Verbrechern etwas auf die Finger zu sehen.
Ich habe in Theresienstadt Töpfe repariert. In Offenbach hatte ich bereits ein Verfahren erfunden, Löcher in Töpfen, Eimern etc. zu reparieren. Wenn sie auch nicht alle wieder feuerfest wurden, so wurden doch alle bestimmt wasserdicht. Ich bekam hier für meine Arbeit Zucker oder Margarine, und zweimal erhielt ich getrocknete Erbsen. Meine Kundschaft war zufrieden und ich auch. Eines Tages ging mir das Material aus, und es war Schluss. Die Schuhreparaturen für Mutti und mich habe ich auch zum größten Teil selbst gemacht, allerdings war Mutti eine undankbare Kundin, sie hatte stets etwas zu nörgeln, während andere Damen von den ihnen reparierten Absätzen entzückt waren.
Zwei- oder dreimal hat Mutti auch Kartoffelklöße, eine erstklassige Delikatesse, in Theresienstadt gemacht, ohne Mehl oder Grieß war das allerdings zu schwer, sie fielen auseinander. Auch Brotkuchen machte sie schon mal, der war immer hervorragend. Man nahm dazu nur Kartoffeln und Brot und etwas Margarine. Fürs Backen gab sie ein Stück von dem Kuchen.
Eine Zeitlang kamen in Theresienstadt jede Nacht große Lastwagen mit Möbeln aller Art an. Ein großer Teil kam aus dem Protektorat, aber auch viele aus Deutschland. Jede Gattung war vertreten, auch Klaviere und Flügel. Die gewöhnlichsten und die allerfeinsten waren vertreten. Vor allem deckten sich die Prominenten ein. Ich selbst schleuste nur die inneren Bretter aus den Schränken zum Verbessern unserer Einrichtung und zum Verbrennen. Beim Abladen wurden die Möbel vom Wagen heruntergeworfen, und 60-80 % ging in Stücke. Ich sah einen derart zugerichteten Flügel an der Erde liegen, Kinder traten mit Füßen auf die Tasten und amüsierten sich. Die Kinder waren im Allgemeinen sehr ungezogen. Sie traten sich mit Füßen und waren auch frech gegen Erwachsene. Dabei ging es den Kindern doch gut. Sie hatten bedeutend besseres Essen in der Kinderküche und dieselben Quantitäten, auch Brot wie die Erwachsenen. Mutti holte eine Zeitlang für eine schlesische Kundin das Kinderessen, und die Kundin bezahlte diese Arbeit mit Kinderessen. Auch des Abends bekamen die Kinder stets gutes und reichliches Essen, während wir sehr oft des Abends nur Kaffee und oft auch nur eine Suppe erhielten. Gemeinschaftsgeist kannte man in Theresienstadt leider nicht, der Egoismus prägte sich bei allen Gelegenheiten aus. Neid und Missgunst waren in starkem Maße vorhanden. Wir hatten darunter sehr zu leiden, da Mutti trotz allem Ungemach immer gut aussah und anständig gekleidet war. Sie stach von den vielen Schabbesgriss vorteilhaft ab.
Am Freitag, dem 3. Februar 1945, erhielten viele, darunter auch wir, die Aufforderung, uns um Mitternacht im großen Saal des Sokolowna einzufinden zwecks Registrierung für einen nach der Schweiz abgehenden Transport. Es gab Tausende von Ungläubigen, ich dagegen war Optimist. Wir trabten nachts hin, und die Zeremonien wurden erledigt. Man sagte uns dort, dass kein Zwang zur Teilnahme bestehe und dass alle Teilnehmer am 4.2. dem Kommandanten persönlich vorgeführt werden sollen. Viele, die nicht an die Schweiz glaubten, traten zurück. Von Muttis Zimmer drei oder vier, von meinem Zimmer ein Ehepaar aus Hamburg. Er wollte mit, aber seine Frau nicht. Ich ließ mich aber durchaus nicht beirren. Nach der Vorstellung beim Kommandanten, der jeden fixierte, ging es eilig ans Packen, da man bereits am selben Abend in der Schleuse der Hamburger Kaserne antreten sollte. Leider regnete es unaufhörlich, den größten Teil unserer Habe ließen wir zurück, da pro Person nur 50 kg mitgehen durften. Kartoffeln, Mehl und sonstiges bekam Franziska M., die dort bleiben musste, die übrigen Sachen, Kleider, Schuhe, Wäsche etc. blieben eben dort. Es war uns nicht möglich weiterzuarbeiten, wir legten uns zwei Stunden mit den Kleidern aufs Bett und schleppten uns dann um vier Uhr nachts nach der Hamburger Kaserne. Dort wurden wir in eine Stube, die Platz für 12 Personen bot, zu 85 Personen hineingepresst, ein haarsträubender Zustand. Dort empfingen wir Brot und Reiseproviant. Um 9 Uhr gab es, als Mittagessen gedacht, eine dicke Gulaschsuppe; wir bekamen aber keine, da wir zu spät kamen. Gleich darauf mussten wir mit den 5-6 Handgepäckstücken im Hof antreten. Nach etwa einer Stunde Stehen wurde Mutti ohnmächtig, sie legte sich trotz Regen in den Dreck. Zwei Leute trugen sie nach der Hamburger Ambulanz, ich musste beim Gepäck bleiben. Ich stand wie auf Kohlen, da dauernd Leute in meiner Nähe zum Verladen auf den Bahnsteig geführt wurden. Endlich brachte man Mutti bleich und schlapp zurück. Der Arzt habe ihr eine Spritze gegeben und geraten, dazubleiben und mit einem späteren Transport zu fahren. Darauf ließ ich mich unter keinen Umständen ein. Als Mutti auf dem Bahnsteig wieder umzufallen drohte, frug ich leichtsinnigerweise den Kommandanten, ob sie nicht gleich Platz nehmen könne. Er lehnte das ab, befahl aber einem jüdischen Helfer, sie festzugalten, damit sie nicht umfalle. Da endlich wurde sie in das Abteil, es war ein Personenzug, hineingeschoben. Wir waren dort zu 9 Personen, sehr eng, das Fenster war heraus, dafür war ein Stück Pappdeckel da.
Über die Reise von Theresienstadt nach der Schweiz findet ihr einliegend einen Bericht. Ich habe diese Schreibarbeit gespart. Der Bericht ist von einer fremden Dame, die auch mit nach der Schweiz fuhr. [Dieser Bericht fehlt.]
Wir kamen in St. Gallen ins erste Schweizer Quartier in ein riesiges Schulgebäude. In jedem Zimmer 45-50 Personen auf Stroh. Essen gut, täglich 2 oder 3 Äpfel, ein lang entbehrter Genuss, auch gab’s Zigaretten. Wir wurden dort untersucht, gebadet etc. Mutti bekam nach mehreren Tagen wieder Durchfall und kam für zwei Tage dort ins Krankenhaus, wo sie gut behandelt und verpflegt wurde. Am 14.2.45 morgens 9.00 Uhr fuhren wir dort ab und wurden auf verschiedene Camps in der Schweiz verteilt. Wir kamen nach Les Avants bei Montreux am Genfer See. Rot-Kreuz-Schwestern begleiteten uns bis Montreux. Unterwegs reichte die Bevölkerung, obwohl es verboten war, Äpfel und Konfekt durch die Fenster. Am Bahnhof Montreux, wo wir in die elektrische Bergbahn nach Les Avants umsteigen mussten, erwartete uns eine Volksmenge, die sich, trotz der mit Gewehr abwehrenden Soldaten, nicht abhalten ließ, uns Äpfel, Konfekt, Brötchen, Zucker etc. in alle Taschen, ja sogar in den Mund zu stecken. Schokolade, die hier sehr knapp und streng rationiert ist, gab es nicht. Um ca. 5 Uhr nachmittags kamen wir in Les Avants an, ca. 1000 m hoch. Von der herrlichen Gegend waren wir entzückt, nicht aber von der Unterkunft. Wir kamen in das vermutlich früher elegante Grand-Hotel, das heute, wohl infolge des Krieges heruntergewirtschaftet, als Camp für Flüchtlinge, Juden und Arier, eingerichtet ist. Wir kamen in den 5. Stock, 105 Treppenstufen, ein kleines, enges Zimmer, das wir mit einem holländischen Ehepaar teilten. Wieder lagen wir an der Erde auf Strohsäcken. Die Verpflegung (ca.700 Personen) war nicht gut. Militärbewachung. Drei Wochen kein Ausgang, dann wöchentlich zwei- bis dreimal von 13.30-17.30 Uhr, nur mit Ausgehkarten. Trotzdem waren wir glücklich, den Nazis entronnen zu sein. Als nach vier Wochen ein Teil nach einem anderen Camp verlegt wurde, kamen wir in den 3. Stock mit einem sehr miesen schlesischen Ehepaar zusammen, und o Graus, nach 8 Tagen kam infolge Zugang ein drittes Ehepaar dazu. Es war wieder furchtbar eng, und die … war unverschämt, Neid und Missgunst. Ihre Füße waren verkehrt eingehängt, aber dafür konnten doch wir nichts. Aber auch dieser Schmerz ging vorüber. Die Tschechen wurden nach weiteren vier Wochen verlegt, und nun sind wir vier Personen zufrieden und vertragen uns. Die Tschechen übrigens wurden von ihrem Konsul sehr unterstützt, bekamen monatlich 30 Frc. Taschengel extra, bekamen neue Schuhe und Kleider, Brot, Kuchen und vieles andere. Sie konnten sich Obst, Wein, Käse, Süßigkeiten und sonstige punktfreie Dinge kaufen, konnten auch ins Café gehen und fuhren wöchentlich ein- bis dreimal nach Montreux, Retourfahrkarte 2,80 Frc. Auch die Holländer erhalten von ihrem Konsulat Sonderzuteilungen. Nur die Deutschen und Österreicher erhalten nichts als monatlich 10 Frc. Taschengeld, das gerade ausreicht für Porto und Schreibmaterial, auch mal für Brotaufstrich. Wer sollte uns auch was geben, vielleicht Hitler? Eine Reise nach Montreux konnten wir uns noch nicht erlauben. Für all das Unangenehme entschädigt uns die prachtvolle Umgebung. Von unserem Zimmer aus sehen wir hinab auf einen Teil des Genfer Sees und hinauf auf die riesigen, unten mit Tannen bepflanzten und oben mit ewigem Schnee bedeckten Berge. An die Höhenluft, die uns beiden die erste Zeit sehr schlecht bekam, haben wir uns inzwischen gewöhnt. Mutti wiegt wieder101 Pfund, ich 139 Pfund. Unsere Brotration beträgt 200 g, neue Kartoffeln hatten wir noch nicht.
Ich könnte zu diesem Bericht noch Ergänzungen von 20-30 Seiten schreiben, aber das würde zu lange dauern, vielleicht später mal. Für heute herzliche Grüße Euer Papa, Opa, Bruder, Schwager und Onkel.